«Ich bin HIV-positiv und führe ein normales Leben»
Er arbeitet zu 100 Prozent. Er lebt in einer offenen Beziehung. Er ist HIVpositiv, sein Partner negativ. Safer Sex ist die Regel. 1995 wurde er positiv getestet und seit da ist er Teil der Kohortenstudie. Jener Schweizer Studie, die weltweit über einzigartiges Dokumentationsmaterial zu HIV/Aids verfügt. Er bleibt für dieses Interview anonym. Warum, können Sie nachlesen.
Seit wann sind Sie HIV-positiv?
Seit 1995 bin ich HIV-positiv. Ich lebte in jener Zeit in einer offenen Beziehung und mein Freund wurde ein paar Monate vorher positiv getestet. Ich liess mich dann – kurz vor Weihnachten – auch testen. Das Testresultat erhielt ich erst nach zwei Wochen, wahrscheinlich wollten sie mich während der Festtage nicht mit dem Resultat stressen. Doch in meinem Innersten wusste ich bereits, ich bin HIV-positiv. Ein negatives Resultat wäre wie der Lottosechser gewesen.
Sie nahmen das Resultat gefasst auf?
Ja. Es wäre besser gewesen, wenn ich mich nicht infiziert hätte, doch es war nun einmal so. Aus Angst vor einer Superinfektion praktizierten wir von da an Safer Sex. Später trennten wir uns. Der Safer Sex blieb.
Wie kamen Sie ins Universitätsspital Zürich?
Der Arzt, der mich seinerzeit positiv auf HIV getestet hatte, schien mir nicht sehr kompetent als HIV-Spezialist. Ein Freund empfahl mir dann die Infektiologie am Unispital Zürich.
Wurden Sie sofort gefragt, ob Sie an der Kohortenstudie teilnehmen wollen?
Ich kann mich nicht mehr ganz genau erinnern. Anfangs ging ich einfach zu regelmässigen Kontrolluntersuchungen. Rund ein halbes Jahr später begann ich mit der Therapie. In dieser Zeit erfolgte auch die Anfrage.
Fiel Ihnen der Entscheid, an der Kohorte teilzunehmen, schwer?
Nein. Es war ja überhaupt nicht mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden. Mein Blut wurde und wird ja eh getestet und wenn ich einen Beitrag zur allgemeinen Gesundheit leisten kann, wenn ich helfen kann, ist mir das recht. Zudem dienen die Ergebnisse ja der Zukunft.
Wurden Sie auch zur Teilnahme an weiteren Studien angefragt?
Ja, ich erinnere mich. Aber das blockte ich ab, weil mir der Aufwand zu gross war. Das heisst, ich hätte in kürzeren Abständen und immer während meiner Arbeitszeit zum Arzt gehen müssen. Das war meine Barriere. Meine momentanen Termine nehme ich auch immer – wenn möglich – zu den Randstunden wahr.
Wie «verkaufte» man Ihnen die Studie?
Man sagte mir, dass es wichtig sei, die Daten regelmässig und kontinuierlich zu sammeln, sie zu vergleichen, auszuwerten. Wie genau das im Hintergrund vonstatten geht, was da zusammengetragen und verglichen wird, interessiert mich nicht sonderlich.
Seit Mitte der 90er-Jahre sind Sie Teil der Studie. Wollten Sie je mehr über die Studie und die Ergebnisse erfahren?
Nein. Vielleicht weil ich meinen HIVStatus verdrängen will … Ich weiss, ich habe diesen Virus, aber ich fühle mich gesund. Die Viruslast ist schon ein paarJahre unter der Nachweisgrenze … Ich fühle mich gut aufgehoben bei meinem HIV-Spezialisten Jan Fehr, Infektiologie am Unispital Zürich.
Sind Sie seit Beginn beim selben Arzt?
Nein. Anfangs waren es viele, viele rasch wechselnde Assistenzärzte. Das störte mich. Eines Tages äusserte ich meinen Wunsch nach einem fest zugeteilten Arzt. Dem wurde stattgegeben. Vielleicht weil ich privat versichert bin …?
Wie häufig sehen Sie Ihren HIV-Spezialisten?
In der Regel alle drei Monate. In letzter Zeit etwas häufiger, da meine Cholesterinund Leberwerte nicht optimal sind.
Was passiert bei diesen Terminen?
Zuerst ein Gespräch, dann die Blutkontrolle. Und alle halbe Jahre einen Ganzkörpercheck. Das heisst Reflexe testen, Gewicht kontrollieren, Umfang messen, einen Blick in den Rachen werfen, Prostata prüfen, Blutdruck – einfach alles, was so bei über 50-Jährigen anfällt. Ich wage, zu behaupten, dass wir als «HIV-Patienten» den grossen Vorteil haben, regelmässig und fachmännisch den Gesundheits-Check machen zu können. Die kleinsten Unregelmässigkeiten können somit sofort bekämpft oder in Angriff genommen werden.
Sind Sie mit Ihrem Arzt zufrieden?
Ja, ich fühle mich ernst genommen. Als ich z. B. letztes Jahr Karibikferien buchte, kümmerte er sich fürsorglich um mich und schaute im Internet nach, welche Art der Prophylaxe für so eine Reise nötig ist. Jede einzelne Insel sind wir durchgegangen und haben geschaut, ob eveventuell ein Malariarisiko bestehen würde.
Sind Sie in den Jahren, seit Sie HIVpositiv sind, selber zum «HIV-Spezialisten» avanciert?
Nein. HIV ist kein grosses Thema für mich. Ich befasse mich auch nicht gross damit. Ich nehme regelmässig meine Medikamente ein, gehe zur Kontrolle und führe ein gewöhnliches Leben. Vor sechs Jahren erkrankte ich an Morbus Castelmann. Da ging es auf Biegen und Brechen. Ich war sehr, sehr schwach, mochte nicht essen, verlor viel Gewicht. Ich wurde auch künstlich ernährt, erhielt Blutkonserve um Blutkonserve, mein Immunsystem war am Boden und ich hing an unzähligen Schläuchen. Aber wie bei HIV wollte ich auch da nicht zu viel darüber wissen. Ich hatte einfach diesen unbändigen Willen, wieder gesund zu werden.
Haben Sie sich je als Versuchskaninchen gefühlt?
Nein, nie. Oder vielleicht bei diesem Morbus Castelmann. Bis da die richtige Diagnose feststand …! Monate zuvor musste ich ja bereits als Notfall ins Unispital … mit einem eiergrossen geschwollenen Lymphknoten unter der Achselhöhle. Und eigentlich hätten diese Ärzte aus
meiner Krankenakte sehen sollen, dass ich HIV-positiv bin, um eventuell früher einen Zusammenhang herzustellen. Aber diese Krankheit ist sehr selten. Versuchskaninchen? Ich meine, die Ärzte mussten ja was machen. Und sie haben offensichtlich das Richtige getan. Das heisst ja auch, der ganze Krankheitsverlauf und die Heilung sind nun dokumentiert und dies hilft vielleicht auch anderen Castelmann-Patienten weiter.
Kennen Sie weitere Teilnehmer an der Kohortenstudie? Tauschen Sie sich aus?
Ich kenne in meinem Freundeskreis ein paar HIV-Positive, aber das ist kein grosses Thema. Und natürlich, wenn ich im Unispital zum Untersuchen bin. Da erkennt man sich … Infektiologie, schwul und dann ist der Fall klar. Aber man spricht eigentlich nicht darüber.
HIV ist nicht das Thema?
Nein. Ich arbeite, ich lebe in einer Beziehung und habe eine chronische Krankheit. Ich muss das auch nicht an die grosse Glocke hängen. In meinem Arbeitsumfeld und in der Familie bin ich als schwuler Mann geoutet, aber das ist es dann auch schon.
Hatten Sie je ein negatives Erlebnis aufgrund Ihres HIV-Status?
Ja, es gab ein sehr markantes. Als ich vor sechs Jahren während sechs Wochen im Unispital war, vertraute ich meiner damaligen Personalverantwortlichen meinen HIV-Status an. Diese Frau ist mit einem Arzt verheiratet. Dieser war zu jener Zeit der Arzt meines Ex-Freundes. Als Personalverantwortliche wie auch als Arzt ist man der Schweigepflicht verbunden. Doch es kam anders. Die Personalverantwortliche erzählte ihrem Mann von mir und er, der Arzt, sprach darauf meinen Ex-Partner an, ob er wisse, dass ich HIV-Positiv sei …! Dieses Erlebnis hat mein Vertrauen zutiefst verletzt.
Würden Sie wieder das Unispital wählen?
Jederzeit. Das Unispital ist für mich sehr gut. Ich bin begeistert davon. Ich sage immer wieder zu meinem Lebenspartner, wenn ich je unansprechbar als Notfall in Zürich in ein Spital eingeliefert werden sollte, so will ich ins Unispital. Hier wurde ich immer gut, kompetent und rasch behandelt. Kann sein, weil ich in der Kohorte bin, kann aber auch sein, weil ich privat versichert bin …:-)
Herzlichen Dank für dieses offene Gespräch.
Das Interview führte Brigitta Javurek (Swiss Aids News Juli 2012)