Out of Africa: Von Ahnen und Geistern
Harare, 27. Januar 2014 - "Als ich über die Feiertage in der Schweiz weilte, erhielt ich aus Harare die traurige Nachricht, dass ein junger Mitarbeiter der Klinik plötzlich verstorben sei. Ich spürte am Telefon, dass meine Mitarbeiterin beunruhigt war. Nach einigem Zögern sagte sie mir, dass er sich das Leben genommen habe.
Die traurige Nachricht beschäftigte mich sehr. Der junge Mann arbeitete seit rund einem Jahr als Gärtner bei uns in der Klinik. Er war stets fröhlich und hatte zu den wenigen Glücklichen in Simbabwe gehört, die eine Arbeit und ein regelmässiges Einkommen haben. Hatte ich etwas verpasst, etwa eine Depression übersehen? Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er sich etwas antun würde.
Als ich nach Neujahr nach Harare zurückkehrte, war die Stimmung im Team sehr gedrückt. Alle waren betroffen vom unerwarteten Tod des jungen Kollegen, der sich kurz zuvor noch enorm über eine Lohnerhöhung gefreut und sich nur einen Tag vor seinem Suizid einen neuen Kühlschrank gekauft hatte. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, was ein Suizid in der Kultur der Shona bedeutet. Es dauerte eine ganze Weile, bis der eine oder andere Mitarbeiter bereit war, mit mir über die Umstände des Todes zu sprechen. Der Verstorbene hatte sich offenbar am Tag zuvor verfolgt gefühlt. Er war derart verängstigt und in Panik, dass er die Nacht freiwillig auf dem Polizeiposten verbracht hatte und sich erst in Begleitung zweier Polizisten wieder nach Hause traute. Wer oder was ihn verfolgt hatte – vermeintlich oder nicht –, war nicht in Erfahrung zu bringen. Nach einigem Zögern erzählte man mir dann auch, dass seine Eltern und zwei seiner Brüder frühzeitig und unter ungeklärten Umständen verstorben seien.
Für meine Mitarbeiter war deshalb klar: In der Familie unseres Gärtners musste schon seit langer Zeit «grosses Unglück» herrschen, denn bei solch unerwarteten Todesfällen sind in der Regel rächende Geister am Werk.
Dazu muss man wissen, dass für die Shona der Tod nicht die Folge einer Krankheit oder eines Unfalls ist, sondern die Folge von Taten des Verstorbenen oder seiner Vorfahren. Sie unterscheiden denn auch zwischen dem «normalen» Tod eines alten Menschen und einem Tod «zu Unzeiten». Letzterer wird auf die Rache eines Ahnen oder eines Geistes zurückgeführt. Die Ahnen haben die Macht über Leben und Tod, sie können sich der Seele eines Menschen bemächtigen und ihn manipulieren. Unser Gärtner wurde gemäss dem Glauben der Shona von einem solchen rächenden Geist verfolgt, und dieser hat ihn dann zu seiner Tat gezwungen. Schuld daran müssen Ereignisse aus der Vergangenheit sein, für die er oder Angehörige seiner Familie verantwortlich zu sein scheinen.
Im Zuge dieser vielen nicht ganz einfachen Gespräche mit meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erfuhr ich auch, warum man etwa auf den Sarg des Toten riesige Holzstämme gelegt hatte. Man zeigte mir ein Foto seines Grabes, und eine meiner Ärztinnen erklärte mir, dass sich in der Tradition der Shona der Geist eines Verstorbenen nach rund einem Jahr vom Körper löse und dann zu den Ahnen übergehe. Damit der Geist des Toten während dieses ersten Jahres nicht von anderen umherirrenden Geistern gestohlen und instrumentalisiert werden kann, wird der Sarg mit grossen Holzstämmen zugedeckt. Nach rund einem Jahr müssen die Ahnen dann durch eine besondere Zeremonie im Haus der Zurückgebliebenen willkommen geheissen werden, damit sie inmitten der Familie leben und mit ihnen kommunizieren können. Andernfalls irren sie weiter herum und bringen Unglück.
In Simbabwe wird wenig über den Tod gesprochen, vor allem wenn klar ist, dass böse Geister im Spiel sind. Dass meine Mitarbeiter einem weissen Ausländer, der ausserhalb ihrer hochkomplexen Traditionen aufgewachsen ist, dennoch ab und an ein kleines Fenster in ihre spirituelle Welt öffnen, empfinde ich als grossen Vertrauensbeweis. Es ist für mich jedes Mal bereichernd und gelegentlich auch erschreckend, wenn sich der Schleier ein wenig lüftet und ich einen Einblick in diese fremde Welt erhalte, wo christliche Religion und tiefer Glauben an die Macht der Ahnen nebeneinander existieren. Auch nach zehn Jahren in Simbabwe ist die Kultur der Shona für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln." (Ruedi Lüthy, NZZ)